Staatsreligion

Nach der Gastrede der Philosophin Carolin Emcke auf dem Parteitag der Grünen vom vergangenen Wochenende gab es große Aufregung. Emcke thematisierte in aller notwendigen Deutlichkeit die Gefahren für die Demokratie durch Desinformation und Verschwörungswahn. Offensichtlich landete sie präzise Treffer, denn die Leitdesinformationsmedien des Springer Verlags Bild und Welt hatten sich offenbar vorgenommen, einen Skandal zu konstruieren, um davon abzulenken, dass sie als Adressaten der präzisen Analyse Emckes mit gemeint sein könnten. Die beste Verteidigung ist die Konstruktion eines Skandals, selbst wenn er auf einer Lüge beruht.

Die skandalisierte Passage der Rede lautete: „Die radikale Wissenschaftsfeindlichkeit, die zynische Ausbeutung sozialer Unsicherheit, die populistische Mobilisierung und die Bereitschaft zu Ressentiment und Gewalt werden bleiben. Es wird sicher wieder von Elite gesprochen werden. Und vermutlich werden es dann nicht die Juden und Kosmopoliten, nicht die Feministinnen oder die Virologinnen sein, vor denen gewarnt wird, sondern die Klimaforscherinnen.“

Wer die Rede live verfolgte sah, wie Emcke die Aufzählung Juden, Kosmopoliten, Feministinnen, Virologinnen mit in die Luft gemalte Anführungszeichen versah. Es handelte sich also ganz offensichtlich um Platzhalter für „Eliten“, die von Verschwörungswahnsinnigen zusammenfabuliert werden. „Muslime“ fehlte in der Aufzählung, „Homosexuelle“ und was es noch an Gruppen gibt, die als Feindbilder herhalten müssen.

Bild, Welt und CDU gaben nun aber die empörten Verteidiger der jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger und unterstellten, Emcke setze die Verfolgung der Juden im Holocaust mit den Anfeindungen gleich, denen Klimaforscherinnen und Klimaforscher ausgesetzt sind. Nein, Emcke vergleicht nicht den Holocaust mit dem Hass auf Klimaforscher, sondern sie zählt auf, wen Verschwörungsmystiker als vermeintliche „Eliten“ deklarieren, um Wissenschaft und Demokratie zu diskreditieren.

Zeitgleich erschien in einigen deutschen Tageszeitungen eine ganzseitige Anzeige der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“, einer dubiosen GmbH, hinter der Arbeitgeberverbände als Geldgeber stecken. Ziel: Propaganda für eine neoliberale Wirtschaftspolitik unter dem Credo „Der Markt regelt alles“, also einer Politik, die in Wahrheit nur noch Politiksimulation ist, weil sie nicht mehr ordnend in den Markt eingreift.

Auf der INSM-Anzeige ist das Gesicht von Annalena Baerbock zu sehen, montiert auf einem orientalisch gewandeten Körper, der in seinen Händen die beiden Gebotstafeln hält, so wie sich Hollywood eben Moses vorstellt, nachdem er die 10 Gebote empfangen hat. Überschrieben ist das Klischeebild mit „Warum wir keine Staatsreligion brauchen. Annalena und die 10 Verbote“ und das erste „Gebot“ lautet denn auch folgerichtig für die Propagandisten einer fossilen Wirtschaft: „Du darfst kein Verbrennerauto fahren“. Karikiert werden sollen Die Grünen als Verbotspartei.

Man darf von solchen Anzeigengestaltern nicht erwarten, dass sie den Unterschied zwischen Geboten und Verboten kennen. Offensichtlich glauben sie, dass der Jude Moses auf dem Berg Sinai Verbote in Empfang nahm. Freunde der Polemik verstehen natürlich auch nicht, dass es in Anbetracht des Klimawandels das Gebot der Stunde ist, unsere Art des Wirtschaftens neu zu denken und entsprechend umzusteuern. 

Noch gravierender ist der Begriff „Staatsreligion“, denn er unterstellt, die wissenschaftlichen Grundlagen des Klimawandels seien Glaubenssache. Wissenschaft ist genau das Gegenteil von Glauben und Religion, nämlich das Ergebnis von Reflexion, Diskurs und Aufklärung. Aber diejenigen, die suggerieren, Klimaforscher seien Priester, haben viele Interessen, nur keines an Aufklärung. Sie wollen ihre Pfründe verteidigen, ihre Geschäftsmodelle, mit denen sie uns in die bedrohliche Lage gebracht haben, in der wir jetzt sind und aus der wir mit ihren Rezepten sicher nicht herauskommen. 

Es braucht eine neue Aufklärung, forderte Carolin Emcke in ihrer Rede, eine Aufklärung, die dafür sorgt, dass wir uns von Verschwörungsmystikern und Propagandisten nicht kirre machen lassen. Über eine neue Aufklärung zu debattieren hätte sich gelohnt. Stattdessen wurde ein Skandal konstruiert von denjenigen, die an seriöser Debatte noch nie interessiert waren. Und wir fallen wieder mal drauf rein. 

Der Generalsekretär der CDU hat sich inzwischen für seine Fehlinterpretation bei Carolin Emcke entschuldigt. Die Springer-Presse nicht. Warum auch. Skandale – und seien sie erlogen – sind ihr Geschäftsmodell.

CUI BONO: WTF HAPPENED TO KEN JEBSEN?
CUI BONO: WTF HAPPENED TO KEN JEBSEN?

++ IDEALKAPITAL KULTURTIPP ++ CUI BONO: WTF HAPPENED TO KEN JEBSEN? in der ARD-Audiothek ++ Erzählt wird die Geschichte vom Einfluss der sozialen Medien, vom Erfolg von Verschwörungsideologien, vom erstarkenden Populismus in unserem Land – und wie all diese Kräfte sich in Zeiten von Corona gegenseitig verstärken und unsere Gesellschaft destabilisieren und beschädigen. ++