Der Kapitalismus ist tot. Ach ja?
Neulich habe ich gehört „Ein Turnschuh ist 10% Fabrikarbeit und 90% Marketing.“ Die neue smarte Kapitalismuskritik verführt zu interessanten Fehldiagnosen. Denn der Turnschuh besteht nach wie vor zu 100% aus Fabrikarbeit. Gemeint war der Verkaufspreis, der zu 90% vom Marketing definiert wird.
Interessant bei dieser kleinen Geschichte ist nicht, ob es ein Versprecher war, in jedem Fall lässt sich daraus folgendes ableiten: Die Produktionsstätten sind inzwischen so weit von uns entfernt, dass wir sie aus dem Blick verloren haben. Erst wenn Menschen, die aus diesen Produktionsverhältnissen fliehen, an unseren Grenzen stehen und hereinwollen, nehmen wir sie wahr. Unser Diffamierungsversuch, um ihnen kein Asyl gewähren zu müssen, lautet: Es sind Wirtschaftsflüchtlinge. Ganz genau, das sind sie (wie die Deutschen, die im 19. Jahrhundert in die USA ausgewandert sind).
Wir bestimmen die Produktionsbedingungen und verhalten uns dabei wie die Kolonialherren vor 100 Jahren. Der historische Kolonialismus zwang die macht- und waffentechnisch unterlegenen Menschen in Abhängigkeit oder Tod. In diesem Sinn sind wir Wirtschaftskolonialisten. Wir zwingen machttechnisch unterlegenen Menschen in Abhängigkeit oder Tod. Mehr noch: Heute wissen wir, wir zwingen auch die Erde und unser Klima ins Koma. Wobei die Erde nicht in diesen Kategorien denkt, falls sie denkt. Für die Erde ist es kein Koma, in das sie trudelt. Die Erde ist vielmehr ein Stoffwechselsystem, das ganz wertfrei mit den Parametern umgeht, die sich ergeben. Ob der Mensch dabei überlebt ist ihr wurscht.
Ich stelle mir gerade die Klimadiskussion nach Covid vor. Nein, wird es heißen, jetzt muss es mal gut sein, wir haben jetzt lange genug verzichtet. Wir wollen wieder leben. Und das heißt, wir wollen nichts ändern. So wird es wohl werden. Die Flüge nach Mallorca sollen schon ausgebucht sein.