Durchgeknallt

Eigentlich wollte ich heute über Cannabis schreiben, aber da kam mir n-tv.de dazwischen mit „Das Cannabis-Verbot kann dann mal weg“, dem Artikel von Thomas Leidel, der eine gute Zusammenfassung der Argumente gegen das Verbot liefert. 

Das Cannabis-Verbot ist so sinnlos wie die Prohibition in den USA der 1920er-Jahre. Dabei könnte man bei Alkohol im Gegensatz zu Cannabis gute Gründe für ein Verbot anführen: die Gefahr einer chronischen Abhängigkeitserkrankung und ihre psychischen, sozialen und körperlichen Folgen wie Schädigung von Gehirn und Nerven, Leber, Bauchspeicheldrüse sowie Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Jährlich sterben etwa 20.000 Menschen in Deutschland an den Folgen von Alkoholgenuss. Anders als bei Alkohol gibt es keinen Nachweis, dass Cannabis bei gesunden, nicht vorbelasteten Konsumenten eine Psychose verursachen kann. Ein Drittel der Gewalttaten werden unter Alkoholeinfluss begangen, ein mit der „Alkoholbezogenen Aggression“ vergleichbares Phänomen durch Cannabis ist nicht bekannt.

Im Oktober 2020 stellte die Fraktion Die Linke eine Anfrage im Bundestag zu Cannabis (Drucksache 19/23736). Cannabis als Einstiegsdroge? Es liegen keine Daten vor. Dafür verzeichnete die polizeiliche Kriminalstatistik im Jahr 2019 186.455 Verstöße gegen das Cannabis-Verbot. Die Polizei hat sicherlich besseres zu tun, als gegen eine harmlose Droge vorzugehen. Die Zahl der Konsumenten zwischen 15 und 64 Jahren liegt erstaunlicherweise in einem Land wie Portugal, das den Cannabiskonsum schon vor 20 Jahren entkriminalisiert hat, mit 11 Prozent deutlich unter dem EU-Mittelwert von 20 Prozent.

Die Nachricht der Woche aber ist die Suspendierung des BILD-Chefredakteurs Julian Reichelt wegen wiederholtem Fehlverhalten gegenüber Frauen. Reichelt galt als besonderer Scharfmacher im Springer-Imperium, er steuerte das von den Auflagenzahlen her seit Jahren sinkende Boulevardschiff BILD ins Fahrwasser von Corona- und Klimaleugner unter bester Protektion des Springer-Chefs Mathias Döpfner.

Fehlverhalten gegenüber Frauen ist ein Thema, das Männer immer wieder versuchen, unter den Teppich zu kehren. Beteiligt am Versuch, Recherchen über Reichelt zu vertuschen, ist auch der Verleger Dirk Ippen, der die fünftgrößte deutsche Zeitungsgruppe mit Titeln wie Frankfurter Rundschau und Münchner Merkur führt. Investigativjournalist:innen von Ippen-Media deckten neue Fakten über Julian Reichelt auf, Dirk Ippen untersagte die Veröffentlichung. 

Aus gutem Grund sind im Qualitätsjournalismus Verlag und Redaktion getrennt. Gerade konnten wir in Österreich beobachten, wie von Verlagsseite gegen Geldzuwendungen in Form von Anzeigen gesteuerte redaktionelle Beiträge die politische Landschaft verändern können – aber auch, wie die Aufdeckung dieser Korruption zum Rückzug von Kanzler Kurz geführt hat und welch wichtige Position Pressefreiheit und unabhängiger Journalismus in einer Demokratie haben.

Unbemerkt blieb der versuchte Ippen-Maulkorb deshalb nicht, weil die New York Times berichtete: „At Axel Springer, Politico’s New Owner, Allegations of Sex, Lies and a Secret Payment“. Jetzt musste Springer die Reißleine ziehen. Wären die Vorwürfe gegen Reichelt ausschließlich in Deutschland diskutiert worden, er wäre weiterhin BILD-Chef. Man hätte das ausgesessen und mit der bekannten BILD-Melange aus Lügen, Verleumdungen und Fake News verbal dagegengehalten. 

Jetzt aber war das Thema in den USA. Springer hat dort groß investiert: 442.000 Millionen für Business Insider 2015 und in diesem Jahr 1 Milliarde für Politico. Mathias Döpfner verlautbarte, man wolle der führende digitale Verleger in der demokratischen Welt werden. Große Worte, die in den USA schwer wiegen. Dort kennt man kein Pardon mit den Reichelt zur Last gelegten Vorwürfen. Reichelt wurde geschasst.

Und weiter? Welche Konsequenzen hat das durchgeknallte Verhalten von Dirk Ippen? Das Investigativ-Team seines Hauses hat sich in einem offenen Brief deutlich positioniert: „Wir müssen sicher sein, dass auch im Hause Ippen die Trennung von Redaktion und Verlag gilt“, schrieben Daniel Drepper, Marcus Engert, Juliane Löffler und Katrin Langhans. 

Darüber hinaus geht es in der Affäre Reichelt um Machtmissbrauch, Aggression, Affären, Demütigungen, Konkurrenzkampf und Angst. Wir Männer, deren Leitlinien Empathie und Respekt, Kooperation und Vertrauen sind, müssen endlich selbst gegen eine toxische Männerkultur aufstehen, die auf Gewalt, Abhängigkeit und Unterwerfung baut. Wir können das nicht an die Frauen delegieren, denn die sind nicht daran schuld, wenn Männer Arschlöcher sind. Wir Männer müssen diese Männer zur Rede stellen. Wo immer sich die Gelegenheit bietet. Durchgeknallte Machos sind over.

Günter Wallraff
Was ist der Unterschied zwischen seriösem Journalismus und BILD? Seriöser Journalismus berichtet faktenbasiert über das, was ist. BILD dagegen hat eine Agenda und sucht oder konstruiert sich dazu die passenden „Fakten“. Dieser Unterschied wurde einer breiten Öffentlichkeit 1977 durch die Undercover-Recherche von Günter Wallraff aus dem Innern des Springer-Blattes bekannt. „BILD lügt“ wurde zum geflügelten Wort.

++ IDEALKAPITAL-KULTURTIPP ++ „Wir sind alle deutsche Juden“ ++ Beeindruckender Film mit Daniel Cohn-Bendit über Israel, Judentum, Antisemitismus, Rassismus, Nationalismus und Religion in der ARD-Mediathek. ++