Im Kino-Rausch

Endlich wieder Kino! Die Abstände zwischen den Reihen und Sitzen sind so großzügig coronakonform bemessen, dass kein Nachbar mit seinem Popkorngewühle und Chips-Gekaue stört. Herrlich!

In den meisten Städten wird man es verpasst haben, so urige Eckkneipen wie in „Nebenan“ und die Tellersülze, die dort serviert wird, unter Denkmalschutz zu stellen. In Berlin gib es beides noch. Daniel Brühl und Peter Kurth performen auf dieser von der Gentrifizierung noch nicht wegdesignten Bühne ein tragikomisches, spannungsgeladenes Kammerspiel. Stammgast Bruno (Peter Kurth) wohnt im gleichen Haus wie Filmstar Daniel (Daniel Brühl), der eigentlich nur kurz einen Kaffee trinken möchte, bevor er zu einem extrem wichtigen Casting nach London fliegt. Doch Bruno verwickelt ihn mit detaillierten, intimsten Kenntnissen über seine Familie in ein Gespräch. Daniel verpasst seinen Flieger, nach 90 Minuten steht in seinem Leben kein Stein mehr auf dem anderen. Das Duell von Daniel Brühl und Peter Kurth ist ein großes, wortgewaltiges Vergnügen.

„Nomadland“ und „Bad Luck Banging or Loony Porn” sind auf den ersten Blick zwei völlig unterschiedliche Filme. Auf den zweiten Blick beschreiben beide unsere kapitalistische Gesellschaft treffend mit exemplarischen Geschichten zweier weiblicher Protagonisten. Fern (Frances McDormand) hat ihren Mann und ihren Job in einem Industriewerk irgendwo im US-amerikanischen Nirgendwo namens „Empire“ verloren und macht sich in einem Camper auf den Weg. Wohin? Regisseurin Chloé Zhao erzählt ihr Roadmovie über das glücklose moderne Nomadenleben leider zu langatmig. 

Auch in der wohlsituierten rumänischen Mittelschicht ist das Glück nicht zu Hause. „Pech beim Vögeln oder Bekloppten-Porno“ erzählt die Geschichte der Lehrerin Emi (Katia Pascariu), die mit ihrem Mann einen privaten Pornofilm dreht, der versehentlich im Internet landet und von Schülern und Eltern entdeckt wird. Ein Tribunal beginnt und kreist um die Frage, ob eine an sich geschätzte Lehrerin nach einem solchen „Skandal“ noch Kinder unterrichten darf. Der Film nimmt diesen Plot zum Anlass, einen entlarvenden Blick auf die rumänische Gesellschaft zu werfen, auf einen ebenso geschmacklosen wie erbarmungslosen Kapitalismus, der sich nicht nur in Rumänien, sondern überall auf der Welt als weitgehend empathiefrei erweist. An dieser Stelle treffen sich die Filme von Chloé Zhao und Radu Jude. Sie demontieren unsere so genannte Zivilisation gekonnt.

Regisseur Thomas Vinterberg thematisiert mit seinem Film „Der Rausch“ unsere legale Volksdroge Alkohol. Martin (Mads Mikkelsen) und drei seiner Lehrerkollegen sind Anfang 40, gelangweilt von ihrem Leben und ihrer Arbeit. Gut situierte Mittelschicht eben, es mangelt an nichts außer an Sinn. Also fassen sie einen Plan: ein regelmäßiger Alkoholpegel soll sie mit neuer Lebensfreude ausstatten. Glas für Glas geraten sie in die Fänge der Sucht. Vinterberg geht sparsam mit Bildern von volltrunkenen Männern um. Das bedächtige Tempo seines Films entspricht eher dem schleichenden Prozess, mit dem Alkohol zu Persönlichkeitsveränderung und Kontrollverlust führt. In Deutschland betragen die volkswirtschaftlichen Kosten durch Alkohol ca. 40 Milliarden Euro pro Jahr. Die Exzesse einer alkoholisierten Gesellschaft und Vinterbergs Film wären mit Cannabis als Volksdroge undenkbar. Wir würden entspannter leben.

Pier Paolo Pasolini (1922-1975) fuhr im Jahr 1959, begleitet von einem Kamerateam, mit einem Fiat Millecento rund um den italienischen Stiefel, um die gesellschaftliche Situation seines Landes zu dokumentieren. Rund 3000 Kilometer sind es von Ventimiglia über Sizilien bis nach Triest. Sechzig Jahre später folgt Pepe Danquart der Route des italienischen Meisterregisseurs und präsentiert uns seinen Reisefilm „Vor mir der Süden“, der Portraits von Menschen und Landschaften sowie Tagebucheinträge und Originalaufnahmen Pasolinis zu einer vielschichtigen Dokumentation verknüpft. Der Film zeigt keine Postkartenmotive, sondern die ungeschminkte Seite Italiens mit eindrucksvollen Interviews mit Italienern und Migranten. Nicht nur Italien, auch Europa steckt in einer tiefen Krise, die Pasolini mit erstaunlicher Weitsicht vorausgesehen hat. „Vor mir der Süden“ verknüpft eine Hommage an einen der größten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts mit einer Liebeserklärung an Italien und die Menschen, die dort ihr Überleben frei von Illusionen organisieren. Die Zeit des Selbstbetrugs ist vorbei, das kapitalistische System steht an einem Wendepunkt. Die Frage ist nur, ob wir das wissen wollen.

Julia Merdes „Fragentage“ Kunstakademie Karlsruhe
Julia Merdes „Fragentage“ Kunstakademie Karlsruhe

++ IDEALKAPITAL KULTURTIPP ++ Das musikalische Universum von Françoise Cactus ++ Radiopodcast auf radioeins.de ++ Mit den Lolitas und Stereo Total hat Françoise Cactus die deutsche Rockmusik geprägt. Sie verstarb am 17. Februar 2021. ++ Mein Lieblingssong von Stereo Total: „Dactylo Rock“ ++ Mein Lieblingsbuch: „Wollita - Vom Wollknäuel zum Superstar“ ++