Missbrauchtes Vertrauen
Das Verhalten unserer Regierung in der Afghanistan-Krise ist eine Schande. Vier Ministerien sind daran beteiligt: Außen, Verteidigung, Inneres sowie das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Dazu kommen die Nachrichtendienste und das Bundeskanzleramt, in dem alle Informationen zusammenlaufen. Wenn man das will.
Sicherheitskabinett nennt sich das entsprechende Gremium für Fragen der äußeren und inneren Sicherheit im Bundeskanzleramt. Aber keiner will etwas gewusst haben, keiner will’s gewesen sein.
Jeder seriöse Arbeitgeber hätte seine Mitarbeiter bei Gefahr für Leib und Leben rechtzeitig evakuiert. Okay, die Bundesrepublik Deutschland war kein seriöser Arbeitgeber für die Menschen, die 20 Jahre lang beispielsweise als Übersetzer, Fahrer, Entwicklungshelfer für sie gearbeitet haben. Das wissen wir jetzt.
Was wir außerdem wissen lässt darauf schließen, dass es sich nicht um ein Versagen der Nachrichtendienste handelt, sondern um die kalkulierte, politisch gewollte Untätigkeit der Ministerien. Man wollte kurz vor der Wahl Bilder von in Deutschland landenden Afghaninnen und Afghanen um jeden Preis vermeiden.
Dazu passt das Mantra der CDU, man wolle kein zweites 2015. Diese Chiffre steht für die Ankunft syrischer Flüchtlinge und das Erstarken der AfD. Diese nationalistisch-rassistische Partei, die inzwischen von Faschisten gekapert wurde, liegt in aktuellen Umfragen zur Bundestagswahl bei 10 Prozent. Bei 10 Prozent! Diese zehn Prozent der Bevölkerung machen der Regierung eine solche Angst, dass sie die Grundsätze der Menschlichkeit über Bord wirft und die Menschen in Afghanistan alleine lässt. Es ist zum Gruseln. Nein, nicht die AfD, sondern die Reaktion der christlich-demokratischen Parteien.
Zwei Berichte von Afghanistan-Experten haben mich tief beeindruckt: Marcus Grotian, Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte, in der Bundespressekonferenz vom 24. August und Emran Feroz, Autor des Buches „Der längste Krieg: 20 Jahre War on Terror“, in der Sendung von Markus Lanz am 25. August. Was sie ausführen spricht für sich und mancht fassungslos über das kalkulierte Regierungs- und Verwaltungsversagen. Wie’s geht zeigen die Aktivisten der „Kabul-Luftbrücke“ den deutschen Behörden: Sie chartern ein Flugzeug und bringen in einer waghalsigen Aktion fast 200 afghanische Ortskräfte aus Kabul in Sicherheit.
Ich bin kein Afghanistanexperte. Aber eines ist nach diesem Desaster klar: Wir müssen uns endgültig von unserer kolonialistischen Politik verabschieden. Wir haben das offensichtlich bis heute nicht getan. Denn der Afghanistan-Einsatz, der als Vergeltungsschlag für die Attentate vom 11. September 2001 begann, wurde nach kurzer Zeit umdefiniert. Es ging nicht mehr um die Zerschlagung eines Terrornetzwerks, sondern um „Nation Building“. Wir wollten eine Nation formen nach unserem Bild. Das ist der klassische kolonialistische Ansatz gegenüber anderen Kulturen. Seit in Afghanistan im 19. Jahrhundert russische und britische Kolonialinteressen kollidierten, ist das Land Spielball geostrategischer Machtinteressen. Mehr nicht. Das Gerede von demokratischen Idealen muss einem im Hals stecken bleiben angesichts der militärischen Opfer.
Demokratie ist eine Staatsform, die nicht mit militärischen Mitteln erzwungen werden kann, sondern durch Überzeugung verbreitet wird. Nicht Waffen, die Menschenrechte sind die Argumente der Freiheit. Weil sich der Mensch nur in einer Demokratie frei entfalten kann. Jedes einzelne der 157 Goethe-Institute in 98 Ländern trägt mehr zur Verbreitung der demokratischen Idee bei als alle deutschen Waffenexporte. Das Jahresbudget der Goethe-Institute weltweit liegt unter 400 Mio. Euro, die deutschen Rüstungsexporte 2020 beliefen sich auf 6 Milliarden Euro. Noch Fragen?
Demokratie setzt voraus, dass sie von Politikern repräsentiert wird, die für sie einstehen. Robert Habeck hat das mit einem eindrucksvollen Satz in der Sendung von Maybritt Illner am 26. August festgestellt: „Regieren heißt, ich will es immer gewesen sein.“ Will sagen: In der Demokratie darf es kein wegducken geben. Klare Kante zeigen ist angesagt, Position beziehen und wenn es sein muss, für seine Überzeugungen auch eine Niederlage kassieren. Dabei klar bleiben in der Haltung für Demokratie, für Menschenrechte und für den Schutz, den die Genfer Flüchtlingskonvention garantiert.
Die Menschen in Afghanistan, die unsere Truppen und Hilfsorganisationen unterstützt haben und für ihre demokratischen Überzeugungen jetzt um ihr Leben fürchten müssen, haben darauf vertraut, dass sie sich auf uns verlassen können, dass wir sie da rausholen. Jetzt sind sie von uns verlassen. Wir haben ihr Vertrauen missbraucht und unsere Ideale verraten.
++ IDEALKAPITAL SPENDENTIPP ++ Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte https://www.patenschaftsnetzwerk.de/spenden/ ++ Luftbrücke Kabul https://www.kabulluftbruecke.de ++
++ IDEALKAPITAL KULTURTIPP ++ Die Story im Ersten: Wahlkampf undercover ++ Wie sicher ist der Superwahlkampf 2021? Die Filmemacher wagen ein ungewöhnliches Experiment: Mit gefakter Identität schleust sich Peter Kreysler in das Innere international agierender Agenturen für Desinformation. ++