Schottergartenland
Ist es wirklich so schlimm? Schlimmer. Deutschland ist ein Land von Spießbürgern. Am Wochenende habe ich eine kleine Vorstadttour gemacht. Schottergärten. Diese Abscheu erregende Gartengestaltung, bei der eine Fläche mit Steinen zugeschüttet und mit wenigen pflegeleichten, isoliert stehenden Ziergewächsen bepflanzt wird, ist immer noch in Mode.
Der Schottergarten ist der Garten der Spießer, jenen kleinlich denkenden Menschen mit einem so engen geistigen Horizont, dass das Wort Horizont in diesem Zusammenhang eine Beleidigung für jeden Horizont ist. Für den Spießbürger soll alles so bleiben wie er beschlossen hat, dass es sein soll. Nichts sprießt in einem Schottergarten wild. Der Spießer träumt von einer Welt, in der das Wilde, Fremde, Unbekannte keinen Platz hat.
Ich selbst bin unter Spießbürgern aufgewachsen. Der Unterschied zu heute war, dass man damals so genannte „Bodendecker“ in die Vorgärten pflanzte, also immerhin Pflanzen. Deren Bestimmung war es, den Boden so hermetisch zu bedecken, dass nichts anderes wachsen konnte, denn das andere, das war Unkraut, und wo Unkraut wuchert, da ist etwas nicht normal. Nicht normal war auch, wenn kein Daimler in der Garage stand (ich wuchs in Stuttgart auf) und wenn man nicht den Traum vom Porsche träumte. Porsche war das Traumauto des Spießers, der am Sonntag BILD am Sonntag las. Wegen dem Sportteil (schwäbische Grammatik). Immerhin zeigt die Ausrede, dass das Schundblatt Unbehagen erzeugte.
Helmut Kohl sprach einstmals von blühenden Landschaften. Das Ergebnis ist der Schottergarten, dessen Entsprechung in unserer Presselandschaft die Springerpresse ist. Die Auflage von BILD und WELT sinken zwar kontinuierlich, was die politischen Parteien nicht davon abhält, sich diesen Blättern anzudienen. Die Ausnahme in diesem Bundestagswahlkampf sind Die Grünen und Annalena Baerbock, die sich ihnen verweigert. Gut so, denn diese Blätter provozieren mit gezielter Desinformation gegen Klimaschutz, Impfungen, fremde Kulturen – kurz gegen alles, was in der Vorstellung der Spießbürger dem Althergebrachten widerspricht und die Ordnung ihres Schottergartenlandes stört.
Selbst wenn das Althergebrachte Scheiße ist, selbst wenn es wie die fossile Industrie zu Natur-, Klima-, Gesundheitsschäden und die Welt in den Abgrund führt, der Spießbürger hält daran fest. Tempolimit? Weniger Fleisch? Erneuerbare Energien? Vorfahrt für Fußgänger und Fahrräder in den Städten? Neues überfordert den Spießer. Der Schottergarten ist sein Naturparadies, das der Hölle sadomasochistischer Kultivierungsphantasien entsprungen ist.
Genauso traurig ließ sich das erste Triell an. Keine Zukunftsperspektive, nirgends. Als hätten sich die Protagonisten verabredet, nur keinem weh tun zu wollen, ganz besonders nicht dem Spießbürger. Alles blieb vage, unkonkret. Als wäre nicht der Klimawandel die Bedrohung, sondern die notwendige Veränderung unserer Lebensweise, um ihn zu stoppen. Die Veränderung unserer Wirtschaft und unseres Konsums fordert unsere Kreativität heraus. Im Moment scheint sie noch begraben zu sein wie unter einer Schotterdecke. Das lässt sich ändern.
Für das nächste Triell am morgigen Sonntag wünsche ich mir, dass die Moderatoren das neue Video von Rezo „Zerstörung Teil 2: Klima-Katastrophe“ anschauen und danach die Kandidatin und die Kandidaten richtig grillen und zu substanziellen Antworten zum wichtigsten Wahlkampfthema Klima provozieren. Ohne die Spießbürger zu schonen. Denn wenn’s nach denen geht, gehen wir unter.
++ IDEALKAPITAL KULTURTIPP ++ Claudia Döffinger und die HR-Big Band ++ Claudia Döffinger ist eine der aufregendsten deutschen Musikerinnen, Jazz-Pianistin, Arrangeurin und Bandleaderin. Ihr Big Band-Sound ist eine spannende Mischung aus groovigen und experimentellen Elementen. ++ Claudia Döffinger – Weg mit den Klischees! im Deutschlandfunk ++