Schuldig sein, Opfer sein
Zwei Phänomene lassen sich in der Pandemie ausmachen: Es braucht Schuldige (Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Globalisierung) und es braucht fürs eigene Lamento eine Bühne (Facebook, Twitter, Telegram), auf der das Opfer-sein ausgelebt werden kann.
Wir sind erschöpft – und wenn wir nicht vom Arzt attestiert krank sind, dann fühlen wir uns zumindest gekränkt. Aber einer Kränkung folgt die Frage auf dem Fuß: Warum kränkt mich das, was mich kränkt? Warum lasse ich mich überhaupt kränken? Der Grund für die Kränkung in der Pandemie ist eine Illusion. Es ist die Illusion, man habe uneingeschränkte Kontrolle über sein Leben.
Die Maßnahmen zum Gesundheitsschutz gegen das Virus schränken mein Leben ein. Restaurants, Theater, Kinos, Shopping-Zentren sind dicht und vieles andere. Was erlaubt sich die Politik, dass sie mich schützt? Hat überhaupt schon jemand dieses Virus gesehen? Ist es nicht eine Erfindung? Wer will mich damit unterdrücken, meine Freiheit einschränken? Sagen die Leerdenker, und es ist an sich schon eine Kränkung, dass wir uns mit deren verqueren Weltsicht auseinandersetzen müssen, die auf einem Niveau ist, die ich selbst im kränkelnden Bildungssystem Deutschland nicht erwartet hätte.
Freiheit und Grundrechte sind Schlüsselwörter in dieser Kränkungsdebatte. Ich bin Opfer von Beschränkungen, dabei wäre plausibler: ich bin Opfer meiner eigenen Beschränktheit. Der Opferkult ist nicht wirklich überraschend. Männer fühlen sich schon als Opfer, wenn man sie bittet, nicht im Stehen zu pinkeln. Auf diesem Niveau bewegt sich der Opferkult der AfD, die das Opfer-sein in diesem Land kultiviert hat. Die fühlen sich schon als Opfer, wenn man ihrer Meinung widerspricht, was ganz naheliegend ist, denn allein das Grundgesetz steht zu ihnen in grundsätzlichem Widerspruch, denn die Grundlage des Grundgesetzes ist der Antifaschismus.
Noch nie war Opfer-sein so en Vogue. Das interessante an denjenigen, die mit dem Opferkult von Leerdenkern und AfD sympathisieren ist, dass sie zur Mittelschicht gehören. Sie sind also eigentlich keine Opfer, sondern Gewinner einer kapitalistischen Gesellschaftsform, die sich bis jetzt einen Scheiß um die Folgen ihres Handelns gekümmert hat. Die eigentlichen Opfer kommen mit Schlauchbooten übers Mittelmeer. Sie dulden nicht mehr stumm, sie zeigen sich, sie ertrinken für die Verheißungen eines Wohlstandes, den wir ihnen demonstrieren, als Konsumenten, als Touristen, als Mitspieler in einer Unterhaltungsindustrie, die sich und ihren Luxus offen ausstellt.
Was charakterisiert ein Opfer? Es hat die Kontrolle verloren. Bei der deutschen Mittelschicht sieht das in etwa so aus: Sie stellt Ansprüche nach mehr Konsum und mehr Vermögen, aber auch der Rest der Welt möchte Teil haben und verlangt von uns mehr als Almosen. Die Bilder der Almosenempfänger in Flüchtlingslagern wie Moria kränken uns tief. Wir wissen instinktiv, dass wir dafür verantwortlich sind und dass wir das Elend der Menschen dort ändern könnten. Aber wenn wir das tun, dann kommen mehr und mehr! Dann verlangen mehr und mehr immer mehr und mehr! Von uns! Dann verlieren wir unseren Wohlstand und die Kontrolle … Irrtum. Die Kontrolle haben wir längst verloren. Aber nicht als Opfer, sondern als Täter.