Toleranz paradox

Der Schriftstellerin Tsitsi Dangarembga wurde vergangenen Sonntag der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2021 in der Frankfurter Paulskirche verliehen. Ihre eindrucksvolle Dankesrede war nicht nur ein starkes Plädoyer für eine offene Gesellschaft, sie zeigte auch die Kontinuität unserer imperialen Ausbeutungsideologie auf – von der Versklavung von Menschen bis zur Ausplünderung der Erde. 

Profit an einer Stelle, so Dangarembga, erzeugt immer Mangel an einer anderen. Dem finanziellen Gewinn stehen immer die Schulden anderer gegenüber. Unser ökonomisches System ist bis heute einem imperialen Denken verhaftet und darauf angelegt, Ungleichgewicht zu erzeugen – sozial und ökologisch.

Vor Dangarembgas Dankesrede intervenierte die Frankfurter Stadtverordnete Mirrianne Mahn und protestierte dagegen, dass die Buchmesse rechtsradikale Verlage zugelassen hatte. Zahlreiche Autorinnen und Autoren, an prominentester Stelle die von Rechtsradikalen seit Jahren verfolgte Jasmina Kuhnke, hatten daraufhin ihre Auftritte in Frankfurt abgesagt. Die Leitung der Buchmesse verwies auf das Primat der Meinungsfreiheit. Eine Demokratie müsse das aushalten. Aber müssen Autorinnen und Autoren faschistische Attacken aushalten? Ist die faschistische Ideologie von der Meinungsfreiheit gedeckt?

Das Toleranz-Paradox hat der Philosoph Karl Popper 1945 in seinem Buch „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ formuliert. Popper definiert Menschen als intolerant, die sich dem rationalen Diskurs verweigern und zur Gewalt gegenüber Andersdenkenden und Menschen, die als fremd definiert werden, aufrufen und beschreibt das Paradoxon der Toleranz so: „Uneingeschränkte Toleranz führt mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz. Denn wenn wir die uneingeschränkte Toleranz sogar auf die Intoleranten ausdehnen, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen.“ 

Im westlichen Kulturkreis gibt es keine intolerantere Ideologie als den Faschismus. Er ist antidemokratisch, antifeministisch/misogyn, antisemitisch, antiziganistisch, nationalistisch und rassistisch. Wenn wir Popper in seiner überzeugenden Argumentation folgen, kann die Teilnahme rechtsradikaler Verlage an der Frankfurter Buchmesse nicht toleriert werden. Die Freiheit des Wortes erlaubt weder Hass noch Hetze. 

Der Frankfurter Oberbürgermeister Peter Feldmann richtete bei seiner Begrüßung in der Paulskirche klare Worte an den Ausrichter der Buchmesse. Die Freiheit des Wortes sei ein hohes Gut, aber „die Würde des Menschen ist das größte Gebot unserer Verfassung, auch unserer Werte“. Wenn Autorinnen und Autoren Angst hätten, nach Frankfurt zu kommen, dann sei das nicht akzeptabel. Im kommenden Jahr sollten sich wieder alle auf der Buchmesse sicher fühlen können. Wir werden sehen. 

Tsitsi Dangarembga bot uns in ihrer Rede eine Denkfigur an, die nicht nur versöhnlich gegenüber allen Menschen dieser Erde ist, sondern auch gegenüber der Erde selbst: Ich bin, weil du bist.

Ich bin, weil du bist. Wer könnte noch Gewalt und Angst verbreiten, wenn er diesem Satz folgt? Ich bin, weil du bist. Wer könnte sein Leben nicht umstellen wollen zugunsten zukünftiger Generationen? Ich bin, weil du bist. In diesem Sinne, so Tsitsi Dangarembga, brauchen wir eine neue Aufklärung. Das Toleranz-Paradox löst Dangarembgas Denkmotiv allerdings nicht. 

„Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“, dieser Satz von Rosa Luxemburg wird immer wieder gerne zitiert, wenn es um die Meinungsfreiheit geht. Aber eine Demokratie, die sich nicht gegen ihre Feinde wie die AfD und andere Rechtsextremisten wehrt, geht unter. „Wenn wir“, um nochmals Popper zu zitieren, „der Intoleranz den Rechtsanspruch zugestehen, toleriert zu werden, dann zerstören wir die Toleranz und den Rechtsstaat.“

++ IDEALKAPITAL-KULTURTIPP ++ Videos von DATTELTÄTER ++ „Ist doch alles gut gemeint, oder? Wenn Migranten-Kids das sagen, was Deutsche sagen“ ++ „Sag mir, ob ich RADIKAL bin! Kann man einem Menschen ansehen, ob er radikal ist oder war?“ ++

Hermann Landshoff Ausstellung Städtische Galerie Karlsruhe
Hermann Landshoff. Modell Beth Wilson an der Rip Van Winkle Bridge am Hudson. New York 1946. Aus der Ausstellung Hermann Landshoff. Porträt, Mode, Architektur. Fotografien 1930–1970. Städtische Galerie Karlsruhe, bis 30.01.2022.